Text Dr. Nicole Seeberger für Publikation 2020

Menga Dolf

papier continu

Seit mehr als dreissig Jahren arbeitet Menga Dolf vor allem im Bereich der Zeichnung. Im Zentrum ihrer künstlerischen Auseinandersetzung steht der weibliche Körper und sein Befinden. Dabei oszillieren ihre Zeichnungen abwechselnd zwischen Figuration und Abstraktion, zwischen Innen- und Aussenschau. Von der Bildhauerei geprägt entwickelte die Künstlerin für sich eine zeichnerische Sprache, die sich mal expressiv und eruptiv, mal zurückhaltend und leise über den Bildträger entfaltet.

Rückblickend zeigt sich, dass Menga Dolf immer wieder ihren Blick wechselte, manifestieren sich in den «Notationen» eher Aussenwelten, sind es in den «Nachbildern» eher Innenwelten oder sie kehrt das innere Befinden in ihren «Körperbildern» nach aussen und macht es sichtbar. Dabei lassen sich Parallelen zu Marguerite Duras ziehen, der Grande Dame der französischen Literatur und des Films der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche neben Jean-Luc Godard eine grosse Inspiration für Menga Dolf ist. So eigenwillig Duras Werk, so schwer fassbar ihr literarischer Stil, Duras Erkunden des eigenen Körpers durch das Äussere, der Gegensatz zwischen Innen- und Aussenwelten oder die Wahrnehmungsformen von Zeit und Raum lassen sich auch in Menga Dolfs Arbeiten finden.

„…was ich vor allem sehe, ist das Haus, ich sehe es mit sehr dicken, gewölbten Mauern, ein Behälter, der eine Flüssigkeit eindämmt, der die Flüssigkeit zurückhält, abteilt und daran hindert, zu verströmen. Die Mauern begrenzen mir ihren Ecken den Behälter, umschliessen ihn. Begrenzung muss sein, sonst fällt die Mauer, und das, was geschehen soll, würde ausströmen…“

Mit diesen Worten beschreibt Duras ihren Film «Nathalie Granger» von 1972. Während hier Duras (Kamera-) Auge die dicken Mauern durchbricht und das Innenleben zweier Freundinnen nicht nur räumlich, sondern auch psychologisch erkundet, sich in fremdes Territorium zweier Frauen begibt, die zusammen in einem geräumigen Haus leben, schaut Dolfs Auge ebenso abwechselnd von aussen nach innen respektive von innen nach aussen.

1992 führte Menga Dolf der Weg zusammen mit Markus Casanova in die Leventina nach Giornico. Ihr Interesse galt nicht nur Peter Märklis neu errichteter minimalistischer Betonkörper «La Congiunta», sondern vor allem seinem Inhalt, den Skulpturen und Reliefs von Hans Josephsohn. Der Schweizer Bildhauer jüdischer Herkunft war für die beiden jungen Bündner Kunstschaffenden eine wichtige Bezugsperson für das eigene künstlerische Tun und Werden, sie waren fasziniert von seinem plastischen Umgang mit Körper, Volumen und Oberflächen.

In Chur teilten sich Dolf und Casanova Anfang der 1990er-Jahre im Gebäude der damaligen Busch-Werke das Atelier. Auch wenn jeder auf seine Art und Weise arbeitete, Casanova mit Stein, Dolf mit Graphit und Kohle auf Papier, Josephsohn hinterliess bei beiden tiefe Spuren im eigenen künstlerischen Werk. Diese Inspiration wird augenscheinlich in der gemeinsamen Ausstellung im Studio 10 in Chur. Menga Dolf hatte sich als Zeichnerin nicht weniger dem Körperhaften, dem Volumen und der Oberfläche angenommen als ihr Künstlerkollege und Steinbildhauer Markus Casanova. Ihre Zeichnungen sind auf körperhafte, voluminöse Formen reduziert, die schrundig-spröde Materialität des Steins wird in den Zeichnungen deutlich sichtbar.

Menga Dolfs Interesse am Material, an Körpern und Oberflächen bahnte sich allerdings schon viel früher an. Vielleicht war es die Emanzipation und Abgrenzung von ihrer Mutter, die Bildhauerin war, dass ihr Weg zur Zeichnung führte. Das feine Gespür für das Haptische und den Körper, für Oberflächen und das Material nahm sie jedoch mit, inspiriert auch von Künstlerinnen wie Eva Hesse, die in den 1960er-Jahren intensiv mit neuen Materialien wie Schnüre, Latex oder Fiberglas experimentierte.

Während Menga Dolfs Ausbildung an der Schule für Gestaltung in Luzern von 1986 bis 1989 waren für sie die Künstlerdozenten Stefan Gritsch, Hans-Peter von Ah und Roman Signer wegweisend. Gritschs enge Materialverbundenheit, seine Auffassung der Farbe als Haut, welche auf der Leinwand das Bild zum Körper macht, von Ahs Haltung als Bildhauer und Gestalter von öffentlichen Räumen und der Besuch von Signers Kunststoff-Lehrgang schärften Menga Dolfs eigene künstlerische Haltung im Umgang mit Material, Form und Oberflächenstruktur. Es war weniger der Kunststoff oder die Farbmasse, als vielmehr der Gesteinskörper und seine Oberfläche und dessen Übersetzung mit Kohle und Graphit auf das Papier, der für das Werkschaffen dieser Zeit kennzeichnend ist. Noch während dem letzten Jahr ihrer Ausbildung in Luzern konnte Menga Dolf ein erstes Mal nach Paris reisen. Sie hat schon damals eine grosse Affinität für Frankreich, aber auch für die französische Kultur. Nach dem Abschluss gab es für die junge Künstlerin erst recht kein Halten mehr. Dank Stipendien der damaligen GSMBA GR, der heutigen Visarte Graubünden, hatte sie die Möglichkeit, sich insgesamt über zwei Jahre im Atelier der Cité des Arts aufzuhalten. Es ist schliesslich Dolfs grosser Verdienst, dass es das Pariser Atelier für die Bündner Kunstschaffenden überhaupt gibt. Durch schöne Zufälle und Netzwerkarbeit fand sich damals eine Mäzenin für das Atelier «Fernando et Jean Luc Lardelli Canton des Grisons», welches noch heute von der Visarte Graubünden betrieben und von Dolf koordiniert wird. Mit dem Wechsel nach Paris und dem ersten Aufenthalt in der französischen Kunstmetropole veränderte sich Menga Dolfs Perspektive. Dolf zeichnete in Paris enorm viel. Sie inventarisierte ihre Umgebung richtiggehend, sog die Stadt visuell auf und verarbeitete ihre Eindrücke direkt und unzensiert. Es entsteht die Werkgruppe der «Notationen». Es sind tagebuchartige Aufzeichnungen, die auf dem Papier Gestalt annehmen.

In Paris lernte Menga Dolf das Schweizer Künstlerpaar Silvia Bächli und Eric Hattan kennen, deren Wohnung die Bündner Künstlerin mieten konnte. Ein Grund mehr für sie, ihren Aufenthalt in der Kunstmetropole zu verlängern und ihre Art von Tagebuch weiterzuführen. Über die Arbeit von Silvia Bächli holte sie sich aber auch neue Impulse für ihr eigenes Schaffen. Bächlis sparsamen zeichnerischen Mittel, schwarze Farbe und Papier, ihre Auslotung der Ausdrucksmöglichkeit der Linie und die nuancenreiche Vielfalt der dunklen Farbe hinterlassen Spuren in Dolfs Arbeitsweise.

Gleichzeitig ging das Leben in Chur weiter. Dolf konnte das ehemalige Atelier von Dea Murk an der Rabengasse 15 beziehen. Und wieder vollzieht sie in der neuen Umgebung einen Blickwechsel. Das explizite Arbeiten mit menschlichen Körpern drängt sich in ihrer Heimat in den Vordergrund. Die Körperzeichnungen, auch in Serien, zeigen sich in einer Direktheit, die an Hannah Villigers Körperbilder und fragmentarischen Nahaufnahmen erinnern. In Zusammenhang mit Dolfs künstlerischem Werdegang ist auch der Umstand interessant, dass sich Villiger als Bildhauerin verstand. Sie bekundete ihr Interesse vor allem an der Plastizität des Körpers, auch wenn Villigers Arbeit hauptsächlich aus Fotografien besteht. Der unzensierte, direkte Blick bringen Menga Dolfs Körperbilder aber auch in Zusammenhang mit Miriam Cahns Werkschaffen, welches für die Bündner Künstlerin ein ebenso wichtiger Bezugspunkt ist. Cahn konzentrierte sich bis Mitte der 1980er-Jahre auf die Zeichnung, reduziert auf die Farben Schwarz und Weiss, und setzte sich mit dem weiblichen Rollenbild und der Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft auseinander. Im Gegensatz zu Cahns Kohlezeichnungen aber auch zu ihrer späteren Malerei, die im Ausdruck von beklemmender Heftigkeit, grosser Verletzlichkeit und Aggression kaum zu übertreffen sind, klingen bei Dolf feinere Töne an. Obschon ihre Körperzeichnungen an der Oberfläche ebenso seelische Befindlichkeiten ausdrücken und durch die fragmentarische Darstellung insbesondere der weiblichen Körpermitte erst recht an Dringlichkeit gewinnen. An diesen Körpern führt nichts vorbei. Der Blick ist frontal auf die weibliche Mitte gerichtet, nackt und unzensiert, erotisch aufgeladen.

In den 1990er-Jahren pendelte Menga Dolf wahrlich zwischen Chur und Paris. Sie hatte die Möglichkeit, in der Rue Victor Letalle ein kleines Pied-à-terre zu kaufen. Und wieder veränderte sich ihr Blick auf die Welt. So als ob sie sich von der kleinen Alpenstadt Chur und der engen Schweizer Bergwelt emanzipieren müsste, richtet sich ihr Blick weg vom Subjekt zum Objekt, von innen nach aussen. Es sind dieses Mal keine körperlichen, nach innen gerichteten Wahrnehmungen, sondern nach aussen in die Welt gemachten Beobachtungen, die sie mit Gouache auf Holzkarton, Leinöl und Öl auf Papier bannt. Zu entdecken gibt es in diesen Werken nicht nur Architekturen, sondern auch Objekte oder Figuren wie einen Alberto Giacometti-Kopf, den sie auf einen ihrer Dérives, Streifzüge, durch die Pariser Stadt- und Museumslandschaft festhält. Diese Arbeiten tragen den sinnigen Titel «Nachbilder». Es handelt sich dabei nicht nur um Bilder aus der Stadt, sondern auch um Nachbilder aus der eigenen Erinnerung, aus der entfernten Heimat.Teile davon konnte Menga Dolf im Centre culturelle Suisse in der Ausstellung «Pied à terre» zeigen, Serien daraus waren aber auch in der Galaria Fravi in Domat/Ems und die Serie «Promenade» im Bündner Kunstmuseum in Chur zu sehen. Obschon das Körperhafte in diesen Arbeiten nach wie vor eine grosse Rolle spielt, sind die «Nachbilder» geprägt von einer äussersten Reduktion auf das Minimum, dunkle, schwarze, randabfallende Flächen dominieren vor allem das Gefüge. Viele dieser Zeichnungen wirken schon fast abstrakt. Eine gewisse Schwere macht sich breit. Dolf ist nah, sehr nah am Objekt dran, das machen diese Zeichnungen eindrücklich bewusst. In ihrer Dunkeltonigkeit wirken diese Blätter ebenso bedrückend.

Ab 2000 löst sich Dolf allmählich wieder von der eher flächigen, dunkeltonigen Malweise hin zu einer grafischen und farbigeren Bildsprache. Die Blätter sind wieder von körperhaften Erscheinungen bewohnt, eine gewisse Lebendigkeit und Leichtigkeit macht sich breit. Eines Tages kaufte sich Menga Dolf auf einem Flohmarkt in Paris ein blaues Tintenfass. Dieses Fläschchen fand wohl ein Plätzchen bei ihren Malutensilien, fand aber lange Zeit keine weitere Beachtung oder gar Verwendung. Es stand einfach wie ein stiller Begleiter da. 2011 griff sie zur blauen Farbe und begann damit zu zeichnen. Dass die Tinte sowohl als Schreib- als auch als Zeichnungsutensil gebraucht werden kann, steht im engen Zusammenhang mit ihrer Arbeitsweise, entstehen diese tagebuchartigen Aufzeichnungen sitzend am Tisch. Hinzu kommt, dass die Tinte ohne konservatorischen Massnahmen mit der Zeit verblasst. Ihre grafischen Aufzeichnungen sind nicht für die Ewigkeit gedacht, Erinnerungen kommen und gehen, nehmen Raum ein und verlassen diesen wieder. Mit dem Aguarela-de-Grafite-Stift, ein mit Wasser auflösbarer Graphit aus Portugal, zeichnet Dolf fortan weitere Körper, aber auch Körperfragmente wie Nacken, Kniegelenke, Hände oder Kopfformen aus kurzer Distanz. Diese Zeichnungen stehen im direkten Dialog mit Hanna Villigers Portraitaufnahmen. Das Ausloten zwischen Linie und Fläche nimmt immer mehr Gestalt an. Erst wird auf gewöhnlichem Papier gearbeitet, indem sie das Papier einmal faltet, auf die eine Seite zeichnet und schliesslich im einmaligen Abklatschverfahren der Monotypie die andere Seite auf die noch nasse Farbe drauflegt. Später greift sie zum Endlospapier, ein so genanntes Endlosdruckpapier, mit den charakteristischen Führungslöchern am linken und rechten Papierrand, das Menga Dolf für sich gefunden und entdeckt hat. Die Papierbahnen mit dem Titel «Papier continu» werden von der Künstlerin im Endlosverfahren mit Pinsel bearbeitet, bedruckt, bearbeitet und wieder bedruckt, Blatt für Blatt, Seite für Seite. Durch Überlagerung und Wiederholung werden die Körperteile immer abstrakter. Einige dieser fragilen Papierbahnen werden zu raumbezogenen, geometrischen Formen angeordnet, andere hängen lose nebeneinander von der Wand und greifen in den Raum ein.

Im Blättern der Seiten wird deutlich, wie konsequent Menga Dolf ihrem Thema seit Beginn ihres Schaffens vor rund dreissig Jahren treu geblieben ist. Die Übersetzung und Übertragung des Körpers in das Medium der Zeichnung entwickelte sie kontinuierlich weiter. Auffallend ist, wie die jüngste Werkserie den Bogen zu ihren Anfängen als Künstlerin schlägt, als sie sich inspiriert von Hans Josephsohn für Material, Volumen und Oberflächenstrukturen begann zu interessieren. Die «Papier continu»-Zeichnungen wirken wohl durch das grafische Verfahren wie Abreibungen, Spuren von Körperteilen, sie schlagen jedoch ein ganz neues, vielversprechendes Kapitel auf.



Dr. Nicole Seeberger

2020